Nördlich des Illwald, dem 300 Hektar großen Réserve Naturelle Régionale, befindet sich Sélestat. Monatelang sind wir immer wieder daran vorbei gefahren. Der Wasserturm, der von der Autobahn aus gut zu sehen ist, macht uns aber doch auf das Städtchen neugierig.
In der Weihnachtszeit ist es schließlich so weit. Immerhin hat das Elsass jede Menge schöne Weihnachtsmärkte zu bieten und soll doch gerade Sélestat, früher Schlettstadt, der Geburtsort des Weihnachtsbaums sein.
Tatsächlich ist Sélestat seit Jahrhunderten mit der Adventszeit und Weihnachten eng verbunden. Schon im Jahre 775, als das Städtchen nur ein Bauerndorf darstellte, verbrachte Karl der Große sein Weihnachtsfest hier. Inmitten von Feuchtwiesen und -wäldern, die als einen der Namensgeber des Ortes gelten – »Scladistat« bedeutet Sumpfort – stand damals eine karolingische Königspfalz.
Ende des 11. Jahrhunderts gründeten Benediktinermönche ein Kloster, infolge dessen sich die Siedlung allmählich zu einer Stadt entwickelte. Nachdem auf Geheiß von Kaiser Friedrich II 1216 eine Stadtmauer errichte wurde, bekam Schlettstadt den Status einer freien Reichsstadt verliehen. Ab 1354 gehörte es dem Zehnstädtebund an. Die Äbte verloren damit an Einfluss, während nach und nach die Zünfte das Regieren übernahmen.
Während der Renaissance erlebte Schlettstadt eine erste Blütezeit. Eine Lateinschule wurde eröffnet und die Stadt erlangte den Ruf als Zentrum des Humanismus und der Gelehrsamkeit. Schlettstadt wurde bedeutende Ausbildungsstätte begabter Schüler wie Erasmus von Rotterdam. Schon früh wurde hier die Kunst des Buchdrucks gepflegt.
Leider machten die dunklen Seiten des Mittelalters auch um Orte mit hohem Bildungsstand keinen Bogen. Epidemien, Hungersnöte und soziale Unruhen setzten Schlettstadt immer wieder zu. Im Dreißigjährigen Krieg nahmen schwedische Truppen die Stadt ein, verloren sie später aber an Frankreich.
Heute ist es friedlich in Sélestat und das städtische Verkehrsamt hat einen Rundgang zusammengestellt, der die Besucher zu den wichtigsten Ecken der Stadt führt. Löwenpfoten weisen dabei den Weg.
Warum ein Löwe? Das Wahrzeichen der Staufer ziert heute das Stadtwappen. Er gilt als vierbeiniger Weggefährte des Riesen Schletto, welcher einer Sage nach als Gründungsvater der Stadt gilt. Schletto gab der Stadt den früheren Namen Schlettstadt.
Eigentlich startet die Tour beim städtischen Verkehrsamt an der Commanderie Saint-Jean. Dort gibt es zwar einen Bezahlparkplatz, doch leider mit einer Höchstparkzeit von nur zwei Stunden.
Das ist zu kurz für diese Runde. Um den unnötigen Gang zum Nachbezahlen zu vermeiden, nutzen wir den kostenlosen Parkplatz beim Rempart Vauban an der großen Illbrücke.
Die ersten Tatzen führen uns von der Ill an die nahe Vauban-Stadtmauer. Der französische General und Festungsbaumeister Sébastien Le Prestre de Vauban plante die letzte Neubefestigung der mittelalterlichen Umwallung. Diese Einfriedung umringte das damalige Schlettstadt und erhielt drei Tore. Das Breisacher Tor, das Colmarer Tor und das Straßburger Tor, wovon letzteres in der Innenstadt noch erhalten ist.
1993 ließ der zeitgenössische Künstler Sarkis 310 Tafeln in das Mauerwerk ein. Das Kunstwerk trägt den Titel »Le pointe de rencontre: Le Réve« – Treffpunkt Traum. Jede der Tafel ist mit einem verträumten Wortfetzen beschrieben. Die Anzahl der Tafeln ist dabei bewusst gewählt: Sélestat umfasst 310 Straßen. Für den Fall, dass weitere Straßen hinzukommen, sind auf der gegenüberliegenden Seite unbeschriftete Tafeln an das Mäuerchen oberhalb der Ill angebracht.
Wir überqueren die Ill und gelangen an die Mediathek, die von weißen Stahlträgern überspannt ist. Hier werden regelmäßig Ausstellungen gezeigt. Bei dem schönen Wetter verzichten wir auf einen Besuch
und erreichen das Zentrum der Gegenwartskunst. In der langgezogenen Glasfront der modernen Architektur spiegelt sich die Altstadt wider, der wir jetzt einen Besuch abstatten.
Zurück auf der linken Seite der Ill überqueren wir die Hauptstraße und gelangen zum Ladhof. Im Mittelalter war hier der Hafen von Sélestat, wo die Waren umgeladen wurden. Im Haus des Ladhof ist einer der schützenden Wehrtürme der Ringmauer integriert. Nachdem der Hafen im 14. Jahrhundert versandete, wurden die Waren direkt auf der Ill verladen.
Heute befindet sich im ehemaligen Hafen der Place du Vieux-Port mit einem recht wandelbaren Gebäude: Erbaut als Armenhospiz, wurde es später zum Krankenhaus der Reichen, dem »hopital bourgeois«, um schließlich zu einem Gefängnis umfunktioniert zu werden. Leider steht der ehemalige Hafen voll mit Autos, die dem Platz seinen Charme rauben.
Umso idyllischer ist die schmale Gasse des historischen Gerberviertels. Die damals stinkende Kanalrinne ist längst überdeckt und hübsche Fachwerkhäuser zieren die Straße. Typisch für das Viertel sind die hohen Giebel und steilen Dächer.
Auch die charakteristischen Fensterläden mit Lüftungsschlitzen zeugen noch heute vom Handwerk der Gerber. An manch einer Tür entdecken wir außerdem drei überkreuzte Gerbermesser, das Zunftzeichen. Eine winzige Kapelle soll die Bewohner von einem unheimlichen »Stadtthier« beschützen – Aberglaube war auch bei den Elsässern verbreitet.
Ein paar Schritte weiter treffen wir im Gänsegässchen auf einen der 16 alten Stadtbrunnen. Lange Zeit waren die Brunnen für die Bewohner die einzige Möglichkeit, sich mit Frischwasser zu versorgen. Die Errichtung eines Trinkwassernetzes war der Stadtverwaltung zwar spätestens 1880 als notwendig bekannt. Aus Kostengründen und weniger technischer Schwierigkeiten aber zögerte sie die Realisierung hinaus.
1887 gab sie schließlich dem Druck der kaiserlichen Militärverwaltung nach. Die Leitungen wurden dann Anfang des 20. Jahrhunderts verlegt. Auch wenn der Brunnen im Gänsegässchen das frischeste Wasser der gesamten Stadt lieferte, ist er seit 1911 außer Betrieb. Dafür steht er in einem der beschaulichsten Gassen der Stadt.
Vom Gänsegässchen leiten uns die Löwentatzen in den Dahliengarten. Na ja, in der Adventszeit ist es wohl eher eine Ruheoase im Tannengarten. So spazieren wir schon bald weiter zum Hexenturm. Das ehemalige Niedertor zählt zu den spärlichen Überresten der ehemaligen mittelalterlichen Stadtmauer. Lange Zeit besaß der Turm an der zur Stadt zugewandten Seite keine Außenwand. Was sich für uns erst einmal seltsam anhört, machte im Mittelalter durchaus Sinn.
Denn gelang es einem Angreifer, den Turm einzunehmen, so standen die Eindringlinge ungeschützt im Freien. Nachdem im 17. Jahrhundert die Eingangstüren zugemauert wurden, diente der Turm als Gefängnis für vermeintliche Hexen. Gleich neben dem Hexenturm befindet sich das letzte Tor der Vauban-Befestigung, das Straßburger Tor. Es ist reich mit militärischen Symbolen, aber auch dem Schlettstädter Löwen und dem Erzengel Michael verziert.